Das Bundesgericht und der Serienvergewaltiger

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Das Bundesgericht und der Serienvergewaltiger

sifa-BLAULICHT vom 7. Dezember 2015

Das sifa-Blaulicht dokumentiert exklusiv Fälle von Kriminalität und Gewalt sowie deren Behandlung durch Gerichte und Behörden.

Serienvergewaltiger wird nicht lebenslang verwahrt
DAS BUNDESGERICHT UND DER SERIENVERGEWALTIGER

Von Anian Liebrand, sifa

Die Hintertreibungsliste der vom Volk 2004 angenommenen Verwahrungsinitiative ist um ein trauriges Kapitel «reicher» geworden. Zwischen 1978 und 1990 hatte der Sexualstraftäter Markus W. 24 Frauen vergewaltigt, weswegen er mehrfach bestraft und «normal» verwahrt wurde. Nach ihm gewährten Vollzugslockerungen hat sich der Serienstraftäter im Oktober 2011 und Februar 2012 in Basel erneut an zwei Frauen vergriffen. Da er seine Opfer 25 und 26 mit einem Schlafmittel betäubte, bevor er über sie herfiel, habe er die sexuelle Integrität seiner Opfer «nicht besonders schwer» verletzt. W. dürfe deshalb nicht lebenslänglich verwahrt werden, hält das Bundesgericht in einem Urteil vom 30. November 2015 fest.

Der Entscheid der höchsten Schweizer Richter macht fassungslos und löst Kopfschütteln aus. Ihm zugrunde liegen offenbar juristische Spitzfindigkeiten, welche zugunsten des Täters und zuungunsten der Opfer ausgelegt werden. Die Bundesrichter argumentieren sinngemäss: Wenn ein Opfer betäubt wird und es das Sexualdelikt nicht bewusst miterlebt, könne man nicht von einer Vergewaltigung sprechen – «bloss» von einer «Schändung». Für diesen Straftatbestand sieht das Gesetz zwar ebenfalls eine Gefängnisstrafe bis zu zehn Jahren vor, hingegen keine lebenslängliche Verwahrung des Täters.

Die Voraussetzungen für eine lebenslängliche Verwahrung traten auf Gesetzesebene am 1. Januar 2008 in Kraft und sind in Art. 64 Ziff. 1bis StGB geregelt – und da fehlt der Begriff «Schändung». Es muss in aller Form bezweifelt werden, ob dieser Gesetzesparagraph der auf Verfassungsstufe stehenden Verwahrungsinitiative – und folglich dem Volkswillen – ernsthaft Rechnung trägt. Es ist ein Schlag ins Gesicht jedes Stimmbürgers, wenn die Bevölkerung wegen Wortklaubereien nicht vor mehrfach verurteilten Seriensexualstraftätern geschützt wird.

Die Eidgenössische Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter» (Verwahrungsinitiative) wurde in einer eidgenössischen Volksabstimmung vom 8. Februar 2004 mit einem Ja-Stimmenanteil von 56% klar angenommen. Wie der Name und der Inhalt der Initiative schon aussagen, ging es dabei weder den Initianten noch dem Souverän darum, bestimmte Arten von sexueller Nötigung auszuklammern. Das Gegenteil ist der Fall, wie der Wortlaut der Initiative darlegt (siehe Seite 3). Die Ziele der Volksinitiative sind glasklar formuliert. Im Übrigen: Es wäre ohnehin haltlos, zu argumentieren, ein unter Betäubung begangenes Sexualdelikt sei in irgendeiner Form weniger schwerwiegend.

Die Verwahrungsinitiative im Wortlaut
Art. 65bis (neu)
1
Wird ein Sexual- oder Gewaltstraftäter in den Gutachten, die für das Gerichtsurteil nötig sind, als extrem gefährlich erachtet und nicht therapierbar eingestuft, so ist er wegen des hohen Rückfallrisikos bis an sein Lebensende zu verwahren. Frühzeitige Entlassung und Hafturlaub sind ausgeschlossen.
2
Nur wenn durch neue, wissenschaftliche Erkenntnisse erwiesen wird, dass der Täter geheilt werden kann und somit keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellt, können neue Gutachten erstellt werden. Sollte aufgrund dieser neuen Gutachten die Verwahrung aufgehoben werden, so muss die Haftung für einen Rückfall des Täters von der Behörde übernommen werden, die die Verwahrung aufgehoben hat.
3
Alle Gutachten zur Beurteilung der Sexual- und Gewaltstraftäter sind von mindestens zwei voneinander unabhängigen, erfahrenen Fachleuten unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung wichtigen Grundlagen zu erstellen.

Abgesehen vom zweifelhaften Umstand, dass das Bundesgericht entgegen dem Volkswillen nicht alle Sexualdelikte als Grund für eine lebenslängliche Verwahrung einstuft, sorgt die Frage, wann ein Gewalt- oder Sexualstraftäter als nicht therapierbar gilt, seit Jahren für juristische Debatten. In seinem Urteil (BGE 140 IV 1) vom 22. November 2013 hat das Bundesgericht entschieden, dass nur lebenslänglich verwahrt werden dürfe, wer auch tatsächlich auf Lebzeiten keiner Behandlung zugänglich sei. Das Bundesgericht führte aus, dass eine prognostizierte Untherapierbarkeit von zwanzig Jahren nicht genüge, da Wortlaut und Sinn des Gesetzes (Art. 64 Ziff. 1bis lit. c StGB) klar von einer dauerhaften Untherapierbarkeit ausgehen. Initiativgegner sagen, es sei unmöglich, eine Untherapierbarkeit bis ans Lebensende zu prognostizieren. Seit Jahren versuchen selbst ernannte Menschenrechtsexperten mit dieser Argumentation die Verwahrungsinitiative zu hintertreiben – leider mit Erfolg.

Fragwürdiges Strafmass

Im vorliegenden Fall von Markus W. kommt hinzu, dass die Richter offenbar vernachlässigen, dass der Mann ein verurteilter Serienvergewaltiger ist, von dem offensichtlich eine beträchtliche Gefahr für Frauen ausgeht. Ihm wurden zwischen April 1978 und Januar 1990 24 Vergewaltigungen (davon acht versuchte) nachgewiesen. Nachdem ihm das Luzerner Verwaltungsgericht im Oktober 2010 (gegen den erklärten Willen des Vollzugsdienstes sowie der Fachkommission zur Beurteilung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern!) Vollzugslockerungen gewährt hatte, wurde er im Oktober 2011 und Februar 2012 wie erwähnt rückfällig. Für die «Schändungen» zweier wehrloser Frauen sowie für die durch die mehrstündige Betäubung begangene einfache Körperverletzung wurde er mit viereinhalb Jahren Gefängnis bestraft. Das Strafmaximum hätte bei 15 Jahren gelegen. Dass ein solcher, bereits mehrfach rückfällig gewordener Typ nach verbüsster Strafe dereinst wieder auf die Gesellschaft losgelassen wird, ist ein Graus. So makaber es klingt: Für den Serienvergewaltiger ist es also «von Vorteil», dass er seine beiden letzten Opfer betäubte, bevor er sie missbrauchte.
Das Pikante an der Argumentation der Bundesrichter: Während ein unter Betäubung erlittenes Sexualdelikt gemäss dem Bundesgericht keine «besonders schwere» Verletzung der sexuellen Integrität des Opfers darstellt, beurteilte die Vorinstanz, das Basler Appellationsgericht, gerade diesen Umstand als besonders schwere Beeinträchtigung, wie sie das Gesetz für lebenslängliche Verwahrungen voraussetzt. «tagesanzeiger.ch» fasst zusammen: «Durch die perfide Art der Tatausführung seien die Opfer dem Mann ‚völlig ausgeliefert‘ gewesen. Die seelische Belastung sei deshalb so massiv, weil die Opfer wegen der Betäubung nicht wüssten und nie erführen, was der Täter mit ihnen konkret gemacht habe. Dies erschwere die Verarbeitung der Ereignisse zusätzlich und stelle ein weiteres schweres Trauma dar.»

Wird auch Lucies Mörder verschont?

Vor wenigen Wochen sorgte ebenso für Aufsehen, dass zwei psychiatrische Gutachten empfehlen, den verurteilten Vergewaltiger Fabrice A. nicht lebenslänglich zu verwahren. A. tötete im September 2013 seine Sozialtherapeutin Adeline M. auf einem Ausflug. Wenige Tage später wurde er an der deutsch-polnischen Grenze verhaftet. Das Strafverfahren zum Tötungsdelikt läuft noch. Wie die Zeitung «Tribune de Genève» berichtet, wird A. in den zwei Gutachten zwar als «extrem gefährlich» und nicht therapierbar eingestuft – dennoch empfehlen beide Berichte keine lebenslängliche Verwahrung. Wie «20 Minuten» berichtet, könnten den heute 41-jährigen A. in Zukunft möglicherweise neue Behandlungsmethoden therapieren. Bis dahin empfehlen die Psychiater eine einfache Verwahrung: Der Mann solle in einer geschlossenen Institution untergebracht werden und regelmässig auf die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Verwahrung überprüft werden.
Gegenüber «Tribune de Genève» gaben einige Personen, die eng mit dem Fall vertraut sind, ihr Erstaunen über die beiden Gutachten zum Ausdruck. Denn auch bei einer lebenslänglichen Verwahrung würde eine Behandlung des Täters durch das Gericht geprüft – wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen.

sifa fordert rasche Massnahmen

Als wirksame Massnahme zur Verhinderung weiterer Opfer schwerer Gewalt- und Sexualstraftäter fordert die sifa, dass die Verwahrungsinitiative endlich vollumfänglich und buchstabengetreu umgesetzt wird. Seit dem am 8. Februar 2004 zustande gekommenen Volksentscheid sind bereits zu viele Unschuldige zu Opfern geworden.

Es bedarf einer dringenden Änderung des Strafgesetzes, damit Serienvergewaltiger lebenslänglich verwahrt werden und die für juristische Spitzfindigkeiten offenen Schlupflöcher gestopft werden. Einerseits müssen die Voraussetzungen für die lebenslängliche Verwahrung neu formuliert, andererseits die Bedingungen für die reguläre Verwahrung verschärft werden.

Die Hoffnungen liegen nun auf dem neu zusammengesetzten Bundesparlament. Der Täterschutz darf nicht länger über dem Opferschutz stehen.