BLAULICHT vom 22.04.2020
Das sifa-Blaulicht dokumentiert exklusiv Fälle von Kriminalität und Gewalt sowie deren Behandlung durch Gerichte und Behörden.
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Lehren der Coronakrise
Fehlende Verantwortungskultur als Geissel der Gesellschaft?
von Anian Liebrand, Geschäftsführer sifa – SICHERHEIT FÜR ALLE
Hat eine grosse Mehrheit der Bevölkerung den Mitte März verkündeten Corona-«Lockdown» aus Solidarität und Bürgerpflicht noch gewissenhaft mitgetragen, brodelt es mittlerweile an allen Ecken und Enden. Kaum noch Verständnis erntet das Gebaren der Bundesräte und Chefbeamten, die Vorbereitungs-Versäumnisse leugnen und die Menschen mit vagen Parolen hinhalten. Dass die unser Staatswesen lenkenden Figuren sich scheuen, Verantwortung zu übernehmen, untergräbt das Vertrauen in den Staat und wird uns alle noch teuer zu stehen kommen.
Eines vorweg: Dass eine Landesregierung in aufziehenden Notsituationen rasche Entscheidungen fällen muss und es dabei nie allen recht machen kann, ist unbestritten. Dass Gesundheitsminister Berset in den ersten Medienkonferenzen durch souveräne Auftritte den Eindruck vermittelte, Herr der Lage zu sein, hatte eine beruhigende, panikmindernde Wirkung auf die Bevölkerung. Seine anfängliche Kommunikationspolitik wurde zurecht gelobt, genauso wie die von Bundesrat Ueli Maurer geprägte Wirtschaftshilfe für arg getroffene Unternehmen die Lage zu stabilisieren half.
Durchhalteparolen
Diesen Kredit hat die Landesregierung, komplett an den Ohren irgendwelcher unbekannten «Experten» hängend, zwischenzeitlich verspielt. Der Unmut in der Bevölkerung ist unüberseh- und -hörbar. Kaum einer versteht, weshalb die Gastronomie noch monatelang ausgehungert werden soll, wo doch mit geeigneten «Distancing»-Massnahmen die Kontaktmöglichkeiten genauso wie in anderen Lebensbereichen eingegrenzt werden könnten.
Kritische Bürger lassen sich nicht länger mit Durchhalteparolen abspeisen, wenn sie nach den Gründen mangelnder Vorbereitung fragen. Zu ehrlicher, vertrauensbildender Kommunikation gehört nämlich auch, zuzugeben, dass die Schweiz auf grössere Pandemien schlecht vorbereitet war. Aus politischen Gründen wurde der Stabilitätsgarant Armee jahrzehntelang kaputtgeschrumpft und mit internationalistischem Geist verseucht. Wir erinnern uns, wie der damalige Armeechef Blattmann vor wenigen Jahren als ewiggestriger «Kalter Krieger» zerrissen wurde, als er jedem Haushalt empfahl, Notvorräte anzulegen. Heute wären wir froh, hätte der Bund einen Leitfaden für weitsichtiges Vorsorgen in der Krise entwickelt, das allen Haushaltungen zugeschickt worden wäre.
Verscherbelte Militärspitäler
Im März 2020 berichtete «Inside Paradeplatz», dass die Armee in den vergangenen Jahren sieben von acht Militärspitäler verscherbelt oder verkommen lassen hat. Es besteht einzig noch das Militärspital Einsiedeln, um im Notfall Betten und Hilfe anzubieten. Das dreigeschossige, unterirdische Militärspital wurde 2017/2018 saniert und kann im Krisen- und Ereignisfall bis zu 200 Kranken und Verletzten eine umfassende medizinische Versorgung zukommen lassen.
Dagegen wurde erst vor drei Jahren das ehemalige Militärspital in Mittelgösgen für 3,5 Millionen Franken verschachert. «Die Schweizer Armee hat keinen Bedarf mehr für die Anlage», sagte eine Sprecherin von Armasuisse Immobilien damals. Die ausrangierten Militärspitäler könnten heute angesichts von Ressourcenengpässen der ordentlichen Spitäler dringend benötigte Hilfe in der Behandlung von Infizierten bieten. Auf alle Fälle wären die Militärspitäler, von denen mittlerweile viele als Lagerräume für Unternehmen genutzt werden, eine willkommene Unterstützung in der Ausbildung der für die Coronakrise mobilisierten Spitalbataillone.
Fehler korrigierbar?
Kann das voreilige Abwracken von Militäranlagen, die heute Gold wert wären, wieder korrigiert werden? Oder könnte wenigstens der geplante Verkauf angeblich tausender von der Armee nicht mehr benötigter Objekte auf seinen Nutzen hin überdacht werden? Ersteres würde wohl extrem teuer. Zweiteres wäre da schon viel eher das Gebot der Stunde.
Der aktuelle Influenza-Pandemieplan der Schweiz aus dem Jahr 2018 ist vom Bundesamt für Gesundheit zum Zweck herausgegeben worden, um Bund und Kantonen zur Bewältigung von Pandemien wie Corona als Handlungs-Leitfaden zu dienen. Wie wichtig gute Ausrüstung (Beatmungsgeräte etc.), Betreuung und Platz (genügend Betten, geschultes Pflegefachpersonal) in Spitälern in der ernstfallartigen Ausbreitungsphase von Viren ist, umschreibt der Pandemieplan detailliert. Warum die Eidgenössische Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und ihre Vorgesetzten es dann zulassen konnten, dass voreilig Militärspitäler geschlossen wurden, ist zumindest erklärungsbedürftig.
Pandemieplan nicht befolgt
Obwohl vom Pandemieplan berücksichtigt, fehlen hierzulande Masken, Tests und anderes Sanitätsmaterial, die der Bund nun zu offenbar überteuerten Preisen eiligst anschaffen will. Erst vor wenigen Tagen wurde publik, dass der Bund schon seit Jahren Bescheid weiss, dass die Schweiz im Hinblick auf Pandemien viel zu geringe Vorräte an Schutzmasken aufweise. Offenbar, um vom eigenen Versagen abzulenken, verbreitete das Bundesamt für Gesundheit wochenlang, dass das Tragen von Hygienemasken für die breite Bevölkerung gar nichts nütze.
Zu welchem Zweck diese Falschaussagen, die an Irreführung der Bevölkerung grenzen, gestreut worden sind, ist lückenlos aufzuklären. Sie widersprechen nämlich dem eigenen Pandemieplan, der im Übrigen genaue «Empfehlungen zur Lagerhaltung von Schutzmasken» für Spitäler, Arztpraxen und sogar für die ganze Bevölkerung festschrieb. Der Bevölkerung wird demnach «als persönlicher Notvorrat» die Anschaffung von «50 Hygienemasken pro Person» empfohlen. Haben Sie je etwas davon erfahren? Erstaunlich, wie stümperhaft wir von unseren Behörden vorgeführt werden.
Quelle der Abbildung: Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, Seite 60
Hygienemasken: Und sie schützen doch!
Dass Hygienemasken sehr wohl Schutz vor Virenübertragung bieten, umschreibt der Pandemieplan im Kapitel «10.1.1 Schutzeffekt der Hygienemasken»:
«Obgleich auch eine Schutzwirkung für den Träger besteht, dienen Hygienemasken insbesondere dem Schutz der Anderen (kollektiver Schutzeffekt).» (…) «Der Schutzeffekt von Hygienemasken in Situationen mit grösseren Menschenansammlungen ist zweifacher Natur: Die Masken können einerseits bei bereits Infizierten die Ausbreitung der Keime durch Tröpfcheninfektion reduzieren, andererseits gesunde Personen bis zu einem gewissen Grad vor einer Ansteckung schützen. Dadurch reduziert sich das allgemeine Infektionsrisiko.»
Und weiter:
«Einige Studien zeigen im Experiment einen gewissen Schutzeffekt der Hygienemasken in Bezug auf eine Virenexposition. Auch aus der Erfahrung mit SARS im Jahre 2003 und mit einem Influenzaausbruch am Genfer Universitätsspital 2012 ergeben sich Hinweise, wonach die Übertragung von Viren durch Hygienemasken eingeschränkt werden kann.»
Ex-BAG-Chef: Gravierende Mängel
Dass die Schweiz sich ungenügend auf Pandemien vorbereitet hat – zu diesem Schluss kommt auch Prof. Dr. Thomas Zeltner. Der ehemalige Vorsteher des Bundesamts für Gesundheit stellt in einem Ende 2018 für das VBS veröffentlichten Gutachten gravierende Mängel (zu wenige Spitalbetten, zu wenige ausgebildete Zivilschützer etc.) fest. Nebst zu wenigen Militärspitälern fällt auch ins Gewicht, dass die geschützten Spitäler des Zivilschutzes veraltet und die behördeninternen Abläufe zu kompliziert seien, wie mehrere Insider gegenüber verschiedenen Medien geäussert haben.
Analysieren wir die angeordneten Massnahmen und vor allem die nicht abstreitbaren Vorbereitungsfehler, führt nichts an der Frage vorbei: Wer trägt für all das konkret die Verantwortung? Oder ist eine der Lehren dieser Krise, dass in der Not niemand unserer teuer bezahlten Spitzenbeamten und Politiker bereit ist hinzustehen und zu sagen: «Ja, das war mein Verantwortungsbereich – und ich habe aus diesem oder jenem Grund so gehandelt.»
Fehlende Verantwortungskultur
Es ist ohnehin eine Geissel unserer Gesellschaft, die alle Staats- und Wirtschaftsebenen umfasst: Fehlende Verantwortungskultur. Fast jeder Gemeinderat lässt sich heutzutage jeden Parkplatzbauentscheid durch fünfstellige Beträge verschlingende Expertisen absichern. In grösseren Betrieben und jeder Verwaltung wurden monströse Kontrollapparate installiert, die mit allerlei Pflichtenheften jede Handlung rechtfertigen und abstützen vermögen. Die Kontrolleure lassen sich überall ihrerseits wieder kontrollieren – nur, damit am Schluss alle und niemand wirklich verantwortlich sein müssen, wenn etwas schief läuft oder eine Entscheidung nur schon Kritik hervorrufen könnte.
Die Frage drängt sich auf: Trägt diese übermässige Absicherungs-Kultur mehr zum Guten bei als dass sie schadet? Der Nutzen beschränkt sich zu grossen Teilen darauf, sogenannten Beratern, Controllern und Experten hohe Honorare zu sichern und Beamte und Politiker vor potenziell anstrengendem Verlassen der eigenen Komfortzonen zu bewahren. Auf der Strecke bleiben dabei die Beweglichkeit, Bürgernähe, schnelle Reaktionszeiten, Kosteneffizienz und nicht selten auch die Transparenz.
Versorgungsengpässe vorbeugen
Eine weitere Lehre aus Corona muss überdies sein, die eigenen Strategien zur Erlangung von Versorgungssicherheit zu überdenken. Matthias Binswanger brachte es in der «Finanz und Wirtschaft» passend auf den Punkt:
«Vermutlich müssen wir das Ziel der Versorgungssicherheit in Zukunft auf andere lebenswichtige Stoffe ausdehnen. Es geht nicht mehr ausschliesslich um Lebensmittel, sondern auch um wichtige medizinische Grundstoffe. Plötzlich auftretende Störungen der Weltwirtschaft, wie sie das Coronavirus verursacht hat, zeigen dies deutlich. Versorgungsengpässe werden zu einem umso grösseren Risiko, je globalisierter die Wertschöpfungsketten organisiert sind. Und ein Land wie die Schweiz, in dem kaum noch produziert wird, ist von diesem Risiko ganz speziell betroffen. Das ist eine wichtige Lektion, die uns das Coronavirus derzeit vor Augen führt.»
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